Buch Lustmarsch durchs Theoriegelände

– Musealisiert Euch!

Lustmarsch durchs Theoriegelände, Bild: Buchumschlag. Gestaltung: Gertrud Nolte.. + 4 Bilder
Lustmarsch durchs Theoriegelände, Bild: Buchumschlag. Gestaltung: Gertrud Nolte..

Gestaltung: botschaft prof. gertrud nolte

Das Buch ist mit einem Plakat-Umschlag in den Maßen 58 cm x 79 cm eingeschlagen.

Erschienen
10.10.2008

Autor
Brock, Bazon

Verlag
DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
978383219024-8

Umfang
434

Seite 122 im Original

I.4 Kontrafakte – Karfreitagsphilosophie – Die Gottsucherbanden – Der Faschist als Demokrat

„Wenn die Wirklichkeit nicht mit unseren Konzepten übereinstimmt, umso schlimmer für die Wirklichkeit; jetzt erst recht!“ bekennen wir pathetisch – das nennen wir idealistisch – und huldigen der Gesetzeskraft des Kontrafaktischen, des Ausgedachten, der Fiktionen. Mit dem Bekenntnis: Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode. Aber dem Karfreitagspathos der Gottesmörder folgt immer ein österlicher Katzenjammer. (1) Ihn bezeugt gegenwärtig das westliche Demokratieverständnis, demzufolge es nicht das Gleiche ist, wenn zwei dasselbe tun.

Also bloß kein schlechtes Gewissen bei Angriffskrieg, Eugenik, Euthanasie, Vertreibung als Pazifizierung, wie sie veritable Demokratien rechtfertigen, obwohl sie seit den Nürnberger Prozessen für verbindliche Bestimmung von Faschismus gehalten werden. Der „Wandel durch Annäherung“ war so erfolgreich, wie er uns lieb war. Wir haben uns bei vollem politischen Bewußtsein den totalitären, fundamentalistischen Regimes weitgehend anverwandelt. Das angezeigte Thema wird im Theoriegelände durch ein theoretisches Objekt repräsentiert, das jedermann aus der Tradition christlicher Ikonographie vertraut sein dürfte. Es handelt sich um den freien Entwurf eines barocken Amboaltars, auf dem die bekannten Insignien der Kreuzigung Christi ausgebreitet liegen, die an ihre Funktion in der christlichen Heilsgeschichte erinnern. Auf dem Amboß bringt der Schmied das glühende Metall durch kontrollierte Gewalteinwirkung in Form. In der Kirche wird von der Ambokanzel gepredigt, um das Wissen und auch das Gewissen der lauschenden Gottesdienstbesucher zu formen. Von der Pergamokanzel aus werden die auf Pergament geschriebenen testamentarischen Botschaften verlesen.

Unter den auf dem Altar platzierten Marterwerkzeugen – Dornenkrone, Zange, Essigkrug, Schwamm, Speer, Hammer, Zimmermannsnägel – fällt die Variante der Geißel auf; dieses Instrument antiken Strafvollzugs zeigen wir in der Gestalt der „Nietzsche-Peitsche“. Mit ihr wird herkömmlich Nietzsches Diktum zitiert: „Gehst du zum Weibe, vergiß die Peitsche nicht“, als hätte Nietzsche sagen wollen, Männer genössen es, Frauen zum Opfer zu machen, um Befriedigung zu empfinden. Aber das Diktum bietet eine entscheidende Erweiterung des Gedankens, eine sadomasochistische Komponente, derzufolge Männer wollten, daß Frauen sie züchtigen, weil sie als Kinder körperliche Bestrafung durch ihnen überlegene Erwachsene als lustvoll erfahren hätten.

Im Sinne dieser Variante betrachten wir eine historische Photographie. Sie zeigt die Studio-Inszenierung eines lebenden Bildes, in der Lou Andreas Salomé als peitschende Lenkerin ihrer beiden Zugpferde, Nietzsche und Paul Rée, erscheint – eine karikierende Anspielung auf Helios und die Rosse des Sonnenwagens; die Sonne ist bekanntlich im Deutschen weiblich. Andererseits ist nicht zu übersehen, daß die Inszenierung auf das seinerzeit populäre Thema für lebende Bilder „Frauen bändigen die unbändige Lust der Männer, indem sie sie unter das Zugtierjoch spannen“ anspielt. Gerade die Differenz von strahlendem Sonnenwagen der Liebe und dem Ehegespann im Alltagstrott, von himmelhochjauchzend und den Mühen der Ebene, eröffnete einen weiten Spielraum der Interpretation, ohne das Risiko, jemanden unmittelbar zu kränken. Selbst in höchstherrschaftlichen Kreisen konnte so vom Altar der Liebe oder dem Altar des Vaterlandes gesprochen werden, was auf der einen Seite der Medaille das Opfer des Verstandes und des Interessenkalküls um der Liebe und des Vaterlandes willen bedeutete, auf der Rückseite der Medaille oder des Spiegels ahnbar werden ließ, daß Vaterland und Liebe selber durch schiere Vernunftlosigkeit und Absurditäten bestimmt sind.

Zu gestellten Bildern wie dem Sonnenwagen des Bürgertums boten Jahrmärkte kurz nach der Einführung der Photographie als Sensation der Bildgebung überall Gelegenheit.

Der Jahrmarktscherz erweist sich aber post festum, nachdem sich Nietzsche in der finalen Schrift „Ecce homo“ zum Christus umbildete, als Versuch, die Marterwerkzeuge im Alltagsleben apotropäisch zu gebrauchen, ganz im bürgerlichen Verständnis der Einheit von Vorsehung und Vorsorge: „Nimm den Regenschirm mit, dann regnet es nicht!“ Nur im apotropäischen Gebrauch der Bilder konnten es Bürger aushalten, ständig mit den Werkzeugen konfrontiert zu sein, mit denen man den Gottessohn zu Tode brachte, damit sich erfülle, was geschrieben stand. Der Bürger übersetzte die Bedeutung dieser Einheit von Vorsehung und Vorsorge in den Entwurf einer Biographie, dem er von Stufe zu Stufe zu folgen versuchte, wodurch sich erfüllte, was er selbst geschrieben hatte: Ecce homo, also: auch ich werde nicht gerichtet, sondern gerettet.

Zu Altären gehören Altarbilder. In unserem Falle erfüllt die Funktion ein ungegenständliches Gemälde des Düsseldorfer Malers Ulrich Erben aus dem Jahre 1983, das, wie der Maler rückseitig anmerkt, auf ausdrücklichen Wunsch von Bazon Brock vom Künstler nicht weiter bearbeitet wurde, obwohl er das ursprünglich vorhatte. (Empfinden wir nicht gerade die Werke in den Ateliers der Künstler als besonders schaudernmachend, an denen sie arbeiteten, als sie der Tod überraschte? Damit Erben nicht möglicherweise ein ganz durchschnittliches Bild den Besuchern seines Ateliers als Werk, in das der Tod intervenierte, hinterlassen möge, empfahl ihm Bazon, ein letztes Bild auf Vorrat zu malen; dieses unvollendete „letzte Bild“ tritt in die Konstellation Altar – Altarbild unseres Theoriegeländes ein.)

Daß vor allem die bürgerlichen Unternehmer trotz ihres Teufelspakts mit dem Kapital, dem Maschinengeist und dem Bigotteriebordell hoffen konnten, am Ende doch noch der verdienten Strafe zu entgehen, lasen sie aus der Schlußpassage des größten Werkes ihres größten Dichters heraus. Das gemäßigte Bildungsbürgertum, dem kein Teufel einen Pakt anbot, hielt sich an die ältere und womöglich noch größere, weil international geltende Autorität Dantes, den nicht der Teufel durchs Leben führt, sondern der Dichter aller Dichter des augusteischen Zeitalters, in welchem ja Christus sein Heilswerk begann. Vergil geleitet Dante durch die Nacht zum Licht, aus dem Höllental des verworfenen Lebens zur geläuterten Sehnsucht edlen Strebens, wie ein Cicerone Burckhardts, der die ersten bürgerlichen Bildungsreisenden in die Kulturlandschaft zwischen Florenz und Ravenna einwies, in der Dante gelebt hatte.

Die Strukturen und die Farbgebungen des Erben-Gemäldes richten unsere Einbildungskraft auf Dantes Grabmal in Ravenna aus. Von seiner Vaterstadt Florenz als Gefolgsmann des Kaisertums und damit natürlicher Gegner des Papsttums ins Exil nach Ravenna vertrieben, stirbt Dante 1321 dort. Die geschäftstüchtigen Florentiner wollen sich des Leichnams bemächtigen, um den inzwischen berühmten Dichter wie eine Reliquie in seiner Geburtsstadt zu vermarkten. Seit die Venezianer Anfang des 13. Jahrhunderts aus Konstantinopel derartige Reliquien und Kunstschätze in ihre Stadt verbracht hatten, glaubten die Florentiner zu wissen, wie man im Falle Dantes vorgehen müsse. Die ravennatische Konkurrenz war schlauer, trickste sich aber schlußendlich selber aus, weil vor lauter Versteckspiel mit Teilen des Leichnams von Dante nicht mehr übrig blieb als von Christus. Auferstanden wie Christus war Dante zu unzweifelhaft ewigem Ruhm. Schließlich errichteten die Florentiner ein Epitaph, ein Denkmal als Ersatz für das fehlende Grab, und die Ravennaten erbauten ein Grabmal, von dem sie behaupten konnten, dort seien tatsächlich die disiecta membra des göttlichen Dante begraben.

Wenn man die Erinnerung an dieses Grabmal in Ravenna in räumlichem und zeitlichem Abstand sich vergegenwärtigt, werden, wie auf dem Gemälde Erbens, Ziegelmauern, eine patinierte Bronzetür und das Grün von Efeu, Lorbeer und Pinien imaginierbar. Ein handkoloriertes, zeichentischgroßes Blatt von Aldo Rossi aus dessen Entwürfen zeitgenössischer Friedhofsarchitekturen unterstützt diese Einbildung. Auch dieses Blatt ist im Zentrum auf die Konfrontation von Ziegelrot und Bronzepatina orientiert. In einer irritierenden Überlagerung von Erinnerungsräumen sind Erbens und Rossis Werke auch als Darstellungen von Gefängnisanlagen lesbar: j.w.d – janz weit draußen ahnt man in die Landschaft gesetzte Umfassungsmauern mit einem gewaltigen Bronzetor, das sich immer nur hinter Menschen schließt; nie sah man jemanden heraustreten – bis auf den Moment, in dem Albert Speer durch das Portal der Spandauer Zitadelle in die Arme von Wolf Jobst Siedler und Joachim Fest entlassen wurde.

Karfreitagsphilosophie

Wir tauchen ab in die Entzauberung des Zaubers. Karfreitag, der Feiertag der Philosophen, der großen und der minderen; also auch unser Festtag, der Tag der hochzielenden Weltveränderer, der intellektuellen Berserker und wissenschaftlichen Wundertäter? Karfreitag, der Festtag heroischer Übermenschen!

Endlich es den Göttern heimzahlen; vor allem den Gott der christlichen Geschöpfesliebe einmal zur Verantwortung ziehen, indem wir ihm jenes Elend zumuten, dem er uns so unerbittlich ausliefert im menschlichen Dasein. Ihn wenigstens auch einmal viehisch malträtieren, aufs Kreuz nageln, verhöhnen, entwürdigen und zerbrechen. Ihm einmal entgegentreten im Triumph unserer Ohnmacht als der Macht zu töten; denn das verstehen wir als einzigen Beweis unserer Macht: die Götter töten zu können, den Schöpfer zu zerstören, die Schöpfung zu verwüsten. Karfreitag: Rache für die Zumutungen ewiger Gotteskindschaft und des Gehorsams. Rache für die Zumutungen der Liebe, des unumgänglichen Verzichts auf Selbstherrlichkeit, auf menschliche Autonomie und Glorie.

Seht den berühmten Arzt, der sich nicht selber zu helfen weiß – jetzt kratzt er ab. Seht den Gesalbten, den Gesandten der größten Macht – jetzt krümmt er sich schmerzlich wie irgendein Ausgestoßener. Seht den Richter, den hoheitlichen Vollstrecker der göttlichen Willkür – jetzt richten wir ihn aus unserer unerbittlichen Rechtlosigkeit.

Karfreitag: die Götter sind einmal wenigstens aus der Welt vertrieben, das Gesetz der unmenschlichen Herren zerschlagen, die fesselnden Traditionen gesprengt; endlich stehen wir im Bewußtsein unseres eigenen Willens und der Kraft unserer eigenen Willkür.

Und dann wird es Abend und still; weil wir erschöpft sind durch die Orgie des Tötens? Still, weil wir doch nicht so genau wissen, ob wir ganze Arbeit geleistet haben? Ahnen wir schon, daß uns die radikalste Demütigung noch bevorsteht, das Eingeständnis, nicht einmal in der brutalsten Zerstörung wirklich Großes zu leisten? Oder haben wir gerade das an Karfreitag herausfordern wollen: unsere Widerlegung als letzte Instanz, als Schöpfer aus eigener Macht, als Herren der Welt?

Ja, und dann der Ostermorgen, der helle Tag, an dem die Götter wieder in die Welt einziehen mit einem peinigend milden Lächeln. Wir sind beschämt, wir wurden ertappt, wir bitten um Nachsicht und versprechen, unseren heroischen Furor, die Rebellion der Elenden zu zügeln. Die Philosophen ziehen den Schwanz ein, die intellektuellen Besserwisser und Kritiker der göttlichen Wahrheit versprechen, ihre Kraft nur noch in der Selbstwiderlegung zu beweisen: Osterversprechen – Osterglück.

Von Ende der 60er bis Ende der 70er Jahre habe ich jedes Jahr diese meine Version des Karfreitagszaubers dem Feuilleton der FAZ zum Abdruck in der Gründonnerstag- oder Ostersamstag-Ausgabe angedient. Sogar Günter Rühle, als Feuilleton-Redakteur den Frankfurter Aktionisten besonders zugetan, lehnte ebenso regelmäßig ab. Vergeblich versuchte ich, ihm klarzumachen, daß sich an Karfreitag nur verdichtet, was ohnehin am Altar geschieht, sobald an ihm bestimmungsgemäß das Kultgeschehen sich erfüllt.

Im Zentrum jeder Kultur steht die Religion. Zu allen Zeiten haben die Kulturen in ihrer jeweiligen religiös-rituell-kultischen Ausprägung Altäre errichtet, an denen sie die Erzwingung der absoluten Gewißheit anschaulich und glaubwürdig demonstrieren konnten. Der Altar steht für die Art und Weise, wie alle Kulturen aller Religionen und umgekehrt alle Religionen aller Kulturen Verbindlichkeit stiften. Wenn für alle Mitglieder einer Gruppe in der kultischen Handlung die gleichen letzten Wahrheiten bestätigt werden, gewinnen sie das Gefühl, daß die Zweifel und Bedenken überwindbar sind, die sie möglicherweise daran hinderten, vorbehaltlos die soziale Ordnung in ihrer Gemeinschaft anzuerkennen.

Um die Verbindlichkeit kultureller Selbstgewißheiten behaupten zu können, muß mit größtem Nachdruck Unwiderrufbarkeit demonstriert werden. Töten ist der überzeugendste Akt, Handlungsresultate unwiderrufbar zu machen. Bekenntnisse können widerrufen werden, Verträge können gebrochen werden, Wissen kann sich als falsch erweisen, affektive Bindungen können durch Gewöhnung so abgeschwächt werden, daß sie sich auflösen – allein das Töten läßt keinerlei Hoffnungen oder Spekulationen zu, das Geschehene ungeschehen zu machen im Widerruf oder in der Umkehrung.

Seit Menschengedenken, also seit unvordenklichen Zeiten wird an allen Altären dieselbe unwiderrufliche Opferhandlung vollzogen. Die Irreversibilität ist selbst dann unwiderlegbar, wenn man mit Schiller behauptet, das Leben sei der Güter höchstes nicht, sondern die Erfahrung der Unwiderruflichkeit. Am Altar wird die Grenze manifestiert, die das Leben vom Tode, das Diesseits vom Jenseits, die Rationalität von der Irrationalität, die Faktizität von der Kontrafaktizität und das Interessenkalkül vom Jenseits des Kalkulierbaren, also vom Absurden, scheidet. Wenn man sie überschreitet, wie im Akt des Tötens, gibt es kein Zurück. Überzeugt werden sollen von dieser Verbindlichkeit ja die lebenden Teilnehmer am Kult und nicht die Geopferten. Es kann auch nicht sinnvoll sein, darauf abzuheben, daß alle Lebenden sich dem Beweis der Irreversibilität beugen im Bewußtsein, demnächst selber geopfert zu werden.

Am Altar wird also nicht der lange Marsch ins Jenseits initiiert, mit mehr oder weniger freiwilligen Gefolgsleuten. Zwar haben sich europäische Ethnologen dazu hinreißen lassen, für ihre Unterscheidungstätigkeit und damit Urteil von so etwas wie Wildem Denken oder Animismus oder mythischem Budenzauber bei sogenannten Naturvölkern oder Barbaren oder Primitiven auszugehen. Aber längst sind wir gezwungen anzunehmen, um unserem eigenen Gebot der Rationalität zu entsprechen, daß der Altar nicht die Welten scheidet. Über ihn wird in grandioser Weise im Diesseits und aus dem Diesseits heraus ein sinnvoller Bezug auf das Jenseits ermöglicht. Am Altar wird die Welt nicht geschieden in die der Rationalität und die der Irrationalität, sondern jenes Verfahren begründet, mit welchem man einen vernünftigen Gebrauch von der Unvernunft machen kann. Im Kult werden soziales Kalkül und die Kraft des Glaubens nicht ein für allemal und uneinholbar getrennt, sondern zueinander vermittelt. Denn jedem Erfahrenen ist klar, daß man zum Beispiel aus sozialem Kalkül, nämlich um Unangreifbarkeit zu erreichen, eine Behauptung als Glaubenssache ausgibt, die es nicht ist. Man wird von Strafverfolgung verschont beziehungsweise gnädig behandelt, wenn man für ein strafwürdiges Verhalten religiöse Überzeugungen als Ursache anführt. Wobei die religiösen Überzeugungen traditionsgemäß dadurch definiert werden, daß sie unwiderleglich seien, weil sie ihre Unwiderleglichkeit ja gerade zum Glaubensgrund machen.

Diese Tradition wurde von Kirchenvater Tertullian am Ende des 2. Jahrhunderts begründet, in der höchster Rationalität verpflichteten Formulierung „credo quia absurdum“ – ich glaube, was nicht widerlegbar ist. Solange man nämlich nur glaubt, was einem einleuchtet, hat man nicht den rechten Glauben, sondern reagiert auf eine momentane Überwältigung durch einen logischen Beweis. Aber der höchste logische Beweis steckt ja gerade im „credo quia absurdum“, nämlich etwas glauben zu müssen, weil es sich jeder Widerlegbarkeit entzieht. Die theologische Argumentation zur unumgänglichen Orientierung am schlichtweg nicht widerlegbaren Glauben begründet die notwendigen Ergänzungen der tertullianischen Maxime, wie sie im Mittelalter galten. Also:

credo quia absurdum
ich glaube,
weil der Glaube per definitionem unwiderlegbar ist;

scio ut credam
ich weiß, daß ich glauben muß,
weil das Wissen gerade seine Begrenztheit weiß;

scio absurdum
also kann ich vernünftig
mit dem Jenseits der Vernunft umgehen.

Einen Hinweis darauf liefert die Alltagswendung, man müsse einer Behauptung so lange glauben, bis man daran glaubt.

Noch einmal das Ganze in nuce: Ein Medizinmann oder Schamane ist noch bei den hinterwäldlerischsten Völkern dadurch Autorität, daß er weiß, wie er selbst bei lebensbedrohlichen Zumutungen wie dem Aufnehmen von Giften so den Gesetzen der Vernunft zu folgen vermag, daß er aus dem Jenseits der Normalität, der Krankheit, dem Wahnsinn oder der Ekstase gesichert zurückkehrt. Nichts da von Hingabe an das Jenseits; wieso sollte einer zurückkehren wollen, wenn es doch drüben in den Gefilden der Kontrafaktizität, der Irrationalität und der Absurdität so großartig zugeht, wie man sich das wünscht, wenn man unter dem Diktat der Rationalität, der Faktizität und der Kalküle steht?

Die Christen haben sich in besonderer Weise befreien wollen von derartigen kindlichen Scheidungen der Sphären – Jammertal und Paradies, Leiden und Glückseligkeit, Rechtschaffenheit und Häresie, Tod und Auferstehung, Zeit und Ewigkeit. Das hielten sie für theologische und philosophische Naivitäten. Die versuchsweise Durchdringung und Vermischung aller Sphären geschieht am Karfreitag als eine Umformung des Verkehrte-Welt-Spiels während der römischen Saturnalien. Der Mob rast, Geifer, Niedertracht, Mordlust toben sich aus. Der Gottessohn bietet sich als Opfer an. Selbstgefällig genießen die Gottestöter ihren Triumph, den sie sich trotz der Widerlegung am Ostersonntag immer wieder verschaffen werden. „Es war ihm, als könne er eine ungeheure Faust hinauf in den Himmel ballen und Gott herbeireißen und zwischen seine Wolken schleifen – als könne er die Welt mit den Zähnen zermalmen und sie dem Schöpfer ins Gesicht speien.“ (Georg Büchner, Lenz)

Natürlich geht das nur unter der Voraussetzung, den falschen Gott zu treffen, um gerade den selbst geglaubten zu bestätigen. Da aber die Geschichte der ewigen Religions- und Kulturkämpfe die Menschen wissen läßt, daß so gut wie jeder Gott irgendwann als vernichtenswürdig, weil falscher ausgerufen worden ist, dient das Karfreitagsgeschehen universell als Aufstand der Gläubigen zur Festigung ihres Glaubens durch Prüfung der Götter, ob sie noch stark genug seien, Fluch, Leugnung und Sturz zu überstehen oder ob man sich besser der Allgewalt prometheischer Führer anvertrauen sollte. Das Motiv wanderte mit Goethes Gedicht „Prometheus“ in unsere Schulbildung ein. Heute raten selbst Polizeipsychologen, man solle den radikalen Fanatismus der hooligans sich erschöpfen lassen, anstatt ihn durch Widerstand der Ordnungskräfte immer weiter anzustacheln. Der Triumph der Radikalen aus der Kraft der rationalen Mobilisierung von Irrationalität, Kontrafaktizität und Absurdität währt nicht lange und die Beweise für die Durchsetzung ihrer Ziele lösen sich innerhalb kürzester Zeit in Luft auf. Auferstehung als christliche Botschaft ist eben nicht nur für Gläubige der Beweis, daß Gewaltandrohung und Töten keine Kräfte zur Erzwingung von Gottesgehorsam, Glaubensstärke und Gesetzestreue sind, selbst dann nicht, wenn man, wie im Falle Jesu, ein legales Urteil vollstreckt. Niemals hätte die christliche Botschaft von der Auferstehung eine derartige Überzeugungskraft entwickeln können, wenn sie nicht vollständig den rationalen Argumenten der Einbeziehung des Jenseits des Lebens ins Leben entsprochen hätte – etwa der griechisch-römischen antiken Vorstellung, wie man die Toten unter den Lebenden vergegenwärtigt. Ein Beispiel dafür boten die Lokrer, die ausgerechnet in der auf Geschlossenheit gründenden Phalanx stets eine Leerstelle wahrten. Die Leere gab Raum für die Vergegenwärtigung ihres toten Kulturhelden Ajax, der auf diese Weise in ihren Reihen mitmarschierte – noch die Nazis beschworen im Horst-Wessel-Lied „Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschieren in unserem Geiste mit“, und während der Feiern für das Scheitern des Hitler-Ludendorff-Putsches von 1923 an jedem 9. November wurden die November-Toten namentlich einzeln aufgerufen wie bei einem militärischen Appell; zur Bestätigung der Anwesenheit der Toten antwortete das Kollektiv mit dem appellüblichen „Hier!“

Am Karfreitag feiern die Menschen ihren bedeutendsten Triumph. Sie bejubeln ihre Macht zur Erzwingung des Absoluten im irreversiblen Akt der Tötung selbst eines Gottes. Doch am Morgen des Ostersonntags soll sich bereits die völlige Vergeblichkeit dieses kindlich-naiven Erzwingungsversuchs herausstellen. Denn das Grab Christi ist trotz Versiegelung leer. Die einzige vernünftige Erklärung bei dieser Faktenlage war die Schlußfolgerung, daß etwas geschehen sein mußte, was kontrafaktisch alle bisherigen Erfahrungen überstieg und gerade deswegen als vollzogene Auferstehung von vernünftigen Leuten geglaubt werden mußte.

Kontrafakte

Überträgt man nun diese Überlegungen auf die immer erneuten welthistorischen Versuche, das Prinzip der Einheit von geistlicher und weltlicher Herrschaft zu erreichen, gewinnt man ein neues Verständnis für den Cäsaropapismus von Byzanz über Mekka bis Moskau. In Westrom wie im Westen hingegen wurde nach dem Ende der von den Etruskern stammenden Staatsreligion (maniera tusca) unter Kaiser Claudius und unter dem sich herausbildenden Einfluß des Christentums die Trennung von geistlicher und weltlicher Macht politisch wirksam und damit die unsinnige Entgegensetzung von Rationalität und Irrationalität, von Faktizität und Kontrafaktizität und von Kalkül und Absurdität verfestigt.

Der Investiturstreit des 11. Jahrhunderts um die Frage, ob der Kaiser oder der Papst berechtigt seien, die Bischöfe nach ihren jeweiligen Interessen zu berufen, war vom Papst gewonnen worden, aber unter der Bedingung strikter Trennung der Sphären von Reich und Rom, die schließlich Martin Luther mit seiner Zwei-Reiche-Lehre auch für die protestantischen Anti-Römer erfüllte. Bis heute leidet die Debatte um die Säkularisierung darunter, daß man das zentrale Argument immer noch nicht verstanden hat, demzufolge es nicht um die Aufspaltung von Rationalität und Irrationalität in ein Diesseits oder Jenseits des Altars geht, sondern um den vernünftigen Gebrauch, den man von der Irrationalität, vom Absurden, vom Surrealen, vom Kontrafaktischen zu machen versteht. Säkularisierung heißt gerade nicht, daß für die aufgeklärte Moderne das Religiös-Kulturelle keine Bedeutung mehr haben sollte; im Gegenteil, Säkularisierung wurde notwendig wegen der sich steigernden Macht des Kontrafaktischen und Irrationalen unter dem Diktat von funktionalisierter Rationalität als Bürokratie und anderen normativen Verfahrensregeln.

Säkularisierung bedeutet also, Verfahren zu entwickeln, durch deren Anwendung die vernünftige Orientierung auf den Glauben in modernen Gesellschaften erreicht werden kann. Die Gegenbewegung zielt auf die Ununterscheidbarkeit von Rationalität und Irrationalität oder von Glauben und Wissen, so daß zwingende Vernunftgründe im Namen des höheren Glaubens abgewiesen werden können und umgekehrt der zur bloßen Dogmatik beliebiger Offenbarung herabgewürdigte Glauben sich berechtigt fühlen darf, seine Kritiker als Ungläubige zu stigmatisieren. Der Sinn der Säkularisierung liegt darin, die machtpolitische Erzwingung der Einheit von Glauben und Wissen abzuweisen, weil der Primat der Vernunft nicht gewahrt werden kann, wenn man schlichtweg, wie unter Stalins Regime, den Glauben, die Religionen und damit die Kulturen für obsolet erklärt, ihre Ausübung zum bösen Spuk werden läßt und Atheismus dekretiert.

Gerade diese Vorgehensweise entspricht ja dem religiös geprägten Kulturalismus. Er möchte bestimmen, was zu gelten hat. Kulturen können keine Wirklichkeit außer ihrer eigenen anerkennen; diese Wirklichkeit wird wesentlich durch andere Kulturen bestimmt, die man entweder unter die eigene Macht zu zwingen versucht oder, soweit das nicht gelingt, als feindliche Antipoden zur Stärkung des eigenen inneren Zusammenhalts offensiv nutzt. Denn schließlich sind Kulturen Überlebenskampfgemeinschaften. Die eigenen kulturell-religiösen Gewißheiten auch nur in Frage zu stellen, käme der Bereitschaft gleich, sich selbst aufzugeben. Um das zu verhindern, unterwerfen alle Kulturen und Religionsgemeinschaften ihre Mitglieder der Normativität des Kontrafaktischen, also der verbindlichen Durchsetzung der Selbstgewißheiten gerade, weil sie nicht mit denen anderer übereinstimmen.

Unüberbietbar prächtig hat diesen kulturalistischen Trotz und das Dennoch-Pathos oder die Jetzt-erst-recht-Mentalität Hegel mit dem Merksatz formuliert: Wenn die Ideen mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmten, umso nachteiliger für die Wirklichkeit; kulturalistisch gesagt, heißt das, wenn unser religiös-kulturell geprägtes Weltverständnis nicht mit dem anderer Gesellschaften zusammenpaßt, müssen wir uns gegen diese anderen zur Wehr setzen. (2)

Der Macht des Kontrafaktischen entkommt man schwer. Was soll eine Mutter ihrer Tochter antworten, wenn diese behauptet, einen Jüngling gerade deshalb wahrhaft zu lieben, weil für sie dessen Bildung, Berufsfähigkeit, Vermögen oder Herkunft keine Rolle spiele, während die Verbindung allen anderen aus denselben Gründen inakzeptabel scheint? Jedes Gegenargument wird nur die Gewißheit der Tochter stärken, daß sie wahrhaft, weil grundlos liebe.

Wie soll Heinz Buschkowsky, Bezirksbürgermeister von Neukölln zu Berlin, auf Wohlgesinnte reagieren, die ihm anraten, alle Erfahrungen mit der Haltlosigkeit von vermeintlich menschenfreundlichen Multikulti-Konzepten durch ein trotziges „Wenn’s nicht geht, dann erst recht“ zu leugnen.

Wie bewahrt man sich vor dem Durchdrehen, den Denkkrämpfen der Gegenvernunft, wenn man in einer Selbstdarstellung der Stadt Braunschweig liest, die Braunschweiger seien stolz auf ihre Vergangenheit und hätten deshalb das Residenzschloß wieder aufgebaut, um gleich nach der Jubelüberschrift indirekt aus der demonstrierten Selbstgewißheit als großartige Kulturträger zu erfahren, daß von Wiederaufbau ebenso wenig die Rede sein kann wie von Liebe zur Vergangenheit? Denn zum einen hatten die Braunschweiger parallel zur Walter Ulbricht’schen Beseitigung des Berliner Schlosses ihr eigenes ohne jeden zwingenden Grund abgerissen und zum anderen stellt sich der angebliche Wiederaufbau als kontrafaktisch heraus, weil ein Konsumtempel und nicht das Schloß hinter der normbereinigten Fassade entstanden ist. Wer sich erinnert, mit welcher Empörung die Demokraten des Westens gegen den Autokraten der Ostzone wegen des Schloßabbruches gewettert hatten, erfährt erst wahrhaft die normative Kraft des Kontrafaktischen. Denn Ulbricht hatte ja für den Abrißbefehl einen politideologischen Grund, nämlich die Beseitigung der Spuren von Aristokratie als Herrschaftsform, während man in Braunschweig gerade keinen Grund vorzuschieben brauchte, außer den, daß es keinen zwingenden Grund gab, das Schloß abzureißen. Die Entscheidung der SED-Funktionäre zum Abriß wurde im Westen als sprechendes Beispiel für eine Diktatur der Unfreiheit und der Geschichtsvergessenheit gegeißelt. Das Gegenteil war der Fall. Gerade wegen der Anerkennung der Macht der Geschichte wollte man das Schloß als Ikone des Wilhelminismus beseitigen, während man im Westen genau das demonstrierte, was man dem Osten vorwarf, nämlich Geschichtsvergessenheit.

Jede Willkürgeste, wie sie sich etwa im Braunschweiger angeblichen Schloßwiederaufbau manifestiert, wird inzwischen damit gerechtfertigt, sie diene dem Geschichtsbewußtsein, sie stärke die lokale kulturelle Identität. In der Tat: Etwas anderes als ideologische Rechtfertigung von Macht und Willkür ist die pathetische Vergangenheitspflege noch nie gewesen.

So geht das in jeder Kultur. In den zurückliegenden fünfundzwanzig Jahren hat der Zwang zur Sprache der politischen Korrektheit und der Selbstbeweihräucherung von Gutmenschen zur Überhöhung jeder beliebigen Tätigkeit als kulturellem Ausdruck geführt: Von der Argumentationskultur über die Erinnerungskultur zur Trauerkultur, von der Liebeskultur über die Erziehungskultur bis zur Dialogkultur wurden in Hunderten von Beispielen die Ansprüche auf kritiklose Akzeptanz der eigenen Methoden von Erziehung, der Formen von Liebesbekundungen und der Versuche, mit jemandem ins Gespräch zu kommen, geltend gemacht. Denn was sich als Kultur ausweist, kann nun mal nicht kritisiert werden. Folgerichtig gibt es inzwischen eine Angstkultur und eine Verbrechenskultur, die allesamt das Prädikat „Kultur“ so ins Feld führen, wie in wilhelminischen Zeiten ein „von“ oder sonstiger Adelstitel Respekt heischend zur Geltung gebracht wurde. Selbst ernstzunehmende Autoren hantieren wie der „Birnenadel“ im Reich des Operettenkaisers Wilhelm.

Wolfgang Schivelbusch veröffentlichte eine „Kultur der Niederlage“, deren Formulierung schon nahe an der Kultur der Dummheit ist. (3) Immerhin, Thomas Mann, der die Kulturpathetik gegen die Pflicht zu zivilisiertem Verhalten in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ hemmungslos gefeiert hatte, kennzeichnete im Doktor Faustus die Stammtischbrüder der „Deutschen Ideologie“ mit der „apokalyptischen Kultur“, nachdem er längst selber erkannt hatte, daß Kultur als Deckname für „intentionelle Re-Barbarisierung“ genutzt wird. (4) Intentionelle Barbarei ist ein ausgezeichneter Ausdruck für die Verteidigung von Kulturen gegen Einsprüche einer transkulturellen universellen Zivilisation.

Gottsucherbanden
Imitatio Christi:
Golgatha – Nürnberg –
Versailles – Moskau

Alle Mitglieder einer Überlebenskampfgemeinschaft genannt Kultur folgen der Psychologie des Märtyrertums. Zum einen gilt, daß die eigene kulturell-religiöse Überzeugung umso bedeutender sein muß, je mehr Anstrengung darauf verwendet wird, sie zu relativieren: „viel Feind, viel Ehr‘!“. Zum anderen nimmt der Märtyrer an, daß seine Kraft zum Leiden eine Bestätigung für seine besondere Rolle bei der Durchsetzung des eigenen kulturell-religiösen Anspruchs ist. Wer sein Leben für seine Sache einsetzt, muß unbezweifelbare Rechtfertigungsgründe haben. Je stärker man zu leiden gezwungen ist und dieses Leiden dankbar erträgt, desto größer die Bestätigung der individuellen wie der kulturell-religiösen Auserwähltheit.

In besonderer Weise ist durch das Beispiel von Jesus Leiden als Beweis der Erfüllung des höheren Willens demonstriert worden. Wer ihm nachfolgte, wurde zum Märtyrer, zum Zeugen (griech. martys) als Bekenner. In der europäischen Geschichte sind drei Menschen unter den Millionen Männern und Frauen in der ausdrücklichen Nachfolge Christi hervorzuheben (mit dem Originalbegriff imitatio wird heute wohl ein look-alike-by-suffering-like-Christ-Verständnis verbunden): Dürer, Ludwig XIV. und Jagoda, also ein Künstler, ein König und ein Kerkermeister.

Dürer verfertigte von sich ein Porträt in der Anmutung von Jesus-Darstellungen; eine Anmaßung, so schien es den einen, die Eröffnung eines völlig neuen Künstlerverständnisses, glaubten die anderen. Denn Dürer zielte auf die übergeordnete Frage, ob ein Künstler selber gelitten haben muß, um authentisch oder mindestens eindrucksvoll das Leiden Christi oder generell das Leiden der Menschen darstellen zu können. Lag die Wirkungskraft der Bilder in den Fähigkeiten und Erfahrungen derer, die sie schufen, oder genügte es, „akadämlich“ Formen und Farben zu manipulieren, nach Ausdrucksschemata, die keines Rückbezugs auf den Künstler bedürfen? Dürer wie zeitgleich Luther unterschieden mit Verweis auf Christus zwischen Werk und Wirkung. Jesus hatte keine Werke geschaffen und doch eine ungeheuere Wirkung erzielt. Sollte das nicht Künstlern zu denken geben, zumal Luther verkündete, daß man nicht durch noch so prächtiges Werkschaffen der Gnade Gottes teilhaftig werden könne (heute heißt das, in die Hall of Fame einzuziehen), sondern ausschließlich durch den Glauben, also durch eine Haltung, durch Grundsätze und kulturell-religiöse Standfestigkeit? Luther und Dürer vertreten bereits die Position des Konzeptkünstlers, obwohl es in ihrer Zeit noch um eine Balance zwischen maniera und concetto einerseits und den Materialien der Realisierung von Werken andererseits ging. Dürers Nachfolger betrieben dann die imitatio Düreri und nicht mehr die Christi.

Ludwig XIV., König von Frankreich, entfaltete sein Weltmodell zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und der Etablierung des „Zeitalters der Vernunft“. War es Echnaton rund tausendfünfhundert Jahre vor Christus bestenfalls indirekt gelungen, die Sonne als Begründerin und Erhalterin allen Lebens auf Erden zu etablieren und damit als höchste Gottheit zu verehren, so gelang das Ludwig XIV. tausendsiebenhundert Jahre nach Christus, indem er sich selbst, sein Königreich und seine Macht zu Repräsentanten der Sonne erhob. Um den Sonnenkönig drehte sich das tägliche Leben in all seinen Ausprägungen, wie die Himmelskörper sich um die Sonne drehen. Diese Konstellationen haben absolute Gültigkeit, weswegen sich diesem Absolutismus alle europäischen Fürsten, auch wenn sie nur kleinste Territorien regierten, einzufügen suchten.

In Versailles, dem Mittelpunkt des Ludwig’schen Weltmodells, glänzten sogar die Gitter des Schloßhofes noch gülden. Den Kern dieses absolutistischen Sonnensystems bildete die Tatsache, daß Ludwig XIV. seinen Anspruch wie Christus durch Leiden rechtfertigte; Christus dürfte alles in allem sechs Stunden schwer gelitten haben, vor allem durch Geißelung, Schmähung, Folter. Ludwig XIV. hingegen ertrug dreißig Jahre lang ein Leiden, das Christus würdig gewesen wäre. Die Ärzte schnitten ihm erst eine Fistel aus dem After, wobei sie den Dickdarm verletzten. Die Folge war eine riesige eiternde Wunde, die jeden Stuhlgang zu einer horriblen Erfahrung machte. Beim prophylaktischen Ziehen aller Zähne brachen die Ärzte Teile des Kiefers heraus. Aus der unstillbaren Wunde stank er so entsetzlich, daß vier Meter Distanz vom König eingehalten werden mußten, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Die Christus-Analogie führt für Ludwig XIV. weiter als für jeden anderen Menschen in der imitatio Christi, denn Ludwig genoß göttlichen Rang als König im System des Absolutismus. Man kann mit vielen Ärzten und Medizinhistorikern gut begründet annehmen, daß die Passion des Sonnenkönigs die bis dato in der Menschheitsgeschichte zweifellos größte Leidensbiographie eines Prätendenten auf Außerordentlichkeit gewesen ist.

In einer Hinsicht kann aber unser dritter Akteur in der imitatio Christi nach Dürer und Ludwig es mit beiden aufnehmen und zwar im Hinblick auf die Beweiskraft seines Beispiels. Er hieß Genrich Grigorjewitsch Jagoda, ein kleines, bis 1937 Stalin blind ergebenes Männchen, ein „Alberich“ der sozialistischen Unterwelt, der als Chef des NKWD, später KGB, im Reiche des GULAG so mächtig war wie Dürer im Reich der Kunst und Ludwig im Sonnenstaat. Auf Jagodas Fingerschnipsen hin wurden über achtzigtausend Menschen verhaftet, in die Moskauer Lubjanka verfrachtet, um in den Folterkammern im Durchschnitt neun Monate lang zu leiden und für ihre Aussagen in den Moskauer Prozessen zugerichtet zu werden. Auf dem Weg ins anonyme Grab durften sich die geschundenen Inhaftierten noch einmal umdrehen, um vor Oberrichter Ulrich und Oberstaatsanwalt Wyschinski ein letztes Wort abzugeben. Jagoda – von Haus aus Apotheker, Giftmischer, politkrimineller Karrierist – konnte sich auf Grund eines zufälligen Verdachtmoments oder aus einer bloßen Laune heraus zur schicksalsmächtigen Gewalt über so gut wie jedermann in seinem Herrschaftsbereich aufschwingen. Erst recht folgte Jagoda jedem kleinsten Anzeichen dafür, daß Stalin über Menschen ein Urteil gesprochen haben wollte.

Als Jagoda mehr oder minder eigenhändig abertausende Individuen umgebracht hatte, rief ihn Stalin im Frühjahr 1937 zu sich: „Jagoda, es ist großartig, was du, im Namen des Aufbaus des universalen Sozialismus, geleistet hast. Du hast die Feinde Lenins bekämpft. Du hast die Trotzkisten, Kamenjew, Bucharin und die Sinowjewisten vernichtet. Das alles ist ungemein lobenswert. Ich bin allerdings verpflichtet, als derjenige, der für diese Entwicklung die Verantwortung trägt, zu überprüfen, ob das auch alles seine Richtigkeit hat, was, und vor allem, wie du das vollziehst. Deswegen mußt du dich selbst nunmehr den Methoden unterwerfen, die du gegen andere angewendet hast. Denn du weißt ja sicherlich, daß die einzig logische Begründung von Ethik ist: Was du nicht willst, daß man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu! Lieber Jagoda, vom heutigen Tag an wirst du also elf Monate Folter auf dich nehmen. Hier ist dein Nachfolger Nikolai Jeschow, – ihr seht euch sehr ähnlich. Den nenne ich nicht Zwerg wie dich, sondern Brombeere, weil er so viele Narben und eine so komische Haut hat. Aber er ist ebenfalls nur ein Hänfling von knapp 1,60 m und hat sich schon seine Sporen in der Verfolgung der Mörder von Kirow in Leningrad verdient. Also, du bist verhaftet und wirst nun im Selbstbezüglichkeitsverfahren überprüft. Es dürfte dir ja bekannt sein, daß wir die Speerspitze des Avantgardismus bilden, d.h. wir sind in dem Maße Vertreter der Moderne, wie wir die angewendeten Verfahren auf uns selbst beziehen. In deinem Falle besteht die Prüfmethode darin, den Folterer der Folter zu unterwerfen.“ (5)

Daraufhin wurde „das Genie der Folterkunst“ (R. Payne) bearbeitet, bis er nur noch aus Haut und Knochen bestand und kaum mehr atmen konnte. Nach elf Monaten wurde er im März 1938 vor den obersten Richter Ulrich und den Generalstaatsanwalt Wyschinski geführt. Sie gestanden dem zitternden und in Schmerzenskrämpfen sich nicht mehr selbständig auf den Beinen haltenden Jagoda, der kaum mehr sprechen konnte, ein Schlußwort als letzter Chance zur Erklärung seines Einverständnisses mit dem Verfahren zu. Jagoda sagte:

„Für das, was ich für den Aufbau des universalen Sozialismus getan habe, hätte ich vom Genossen Stalin nichts als Ruhm und Ehre verdient. Man hätte mir wegen meiner Verdienste um den Sieg des Sozialismus und die Bekämpfung seiner Feinde Dankbarkeit erweisen und mir ein großartiges Leben bis zu meinem Ende gestatten müssen. Allerdings muß ich gestehen, daß ich für die Methoden, die ich dabei angewendet habe, von Gott die schlimmsten und grausamsten Foltern verdient habe, die man sich nur denken kann. Jetzt sehen Sie mich an, verehrte Genossen, und urteilen Sie selbst: Gott oder Stalin?“

Insofern Jagoda selbst der lebendige Beweis für die Foltern war, die er von Gott verdient hatte, hat er den Jagoda’schen Gottesbeweis erbracht. Dürer – Ludwig XIV. – Jagoda, das ist eine einzigartige Beweiskette von gesamteuropäischer Dimension. (6)

So folgenreich auch diese Beispielgeber zur imitatio Christi gewesen sind, so werden sie doch übertroffen von den unzähligen Mitgliedern der Gottsucherbanden. Heutigentags sind das vor allem junge Männer, die unter dem Druck des Testosterons und in dem Verlangen danach, daß Blut fließen möge, sich zu Märtyrerkampfverbänden zusammenschließen. Sie sind, wie der Bremer Soziologe Gunnar Heinsohn meint, nicht mehr in die Sozialsysteme ihrer Geburtsländer integrierbar Überschüssige. Sie werden zu Beispielen für rücksichtslose Machtpolitik als lebende Waffen aus der staatlich geförderten, weil gewollten Erzeugung von Überbevölkerung. Niemand wird sich freiwillig als überflüssig akzeptieren wollen. Der Zusammenschluß zu Gottsucherbanden ermöglicht es diesen Machtmassen, den Spieß umzudrehen und sich zum Träger einer gottgewollten Neuordnung aller Verhältnisse zu erklären. Deus vult, Gott will es, lautete immer schon die Parole für derartige Umwälzungen; das Niedrigste wird zum Höchsten, die Herren der alten Welt stürzen in den Staub.

Wer da nicht mitmacht, wird zum ungläubigen Beleidiger des göttlichen Willens und damit zu Ungeziefer, das man zu vernichten hat. Den Beweis für das, was Gott will, liefert eine genaue, verbindliche Lesart der Texte, für die niemand wagen wird, einen anderen Autoren als Gott zu benennen. Die Bandenstruktur ist bewährt als effektivste Gruppenbildung überhaupt, weil sie durch strikte Exklusivität für Außenstehende entweder so furchterregend oder so vorbildlich erscheint. Die Mafia oder die hooligans oder die auf ethnische, sprachliche, religiöse Homogenität getrimmten Kulturen aller Regionen der Welt sind dafür bestes Beispiel. Zur Bewahrung derartiger kultureller Strukturen darf jeder so gut wie jedes Mittel anwenden, sei er nun europäisches ETA-Mitglied oder afrikanischer Hutu oder südindischer Tamil-Tiger oder Bewohner Osttimors oder des Balkans.

Von allen Seiten wird Separatismus als Ausprägung kultureller Identität zum Grundrecht schlechthin erhoben. Wer es einfordert, darf mit reichlicher Belohnung rechnen, denn das lohnt sich gerade für diejenigen Geldgeber des blühenden Kulturwahnsinns, die den Globalismus befördern wollen, um jeglicher Reglementierung für ihr Tun und Lassen zu entgehen. Wenn man die Weltbevölkerung in lauter kleinste Kulturgemeinschaften zerlegt, hat man jedenfalls nicht damit zu rechnen, daß die Verlierer der Globalisierung sich zu unübersehbarem Widerstand zusammenrotten könnten.

Der Faschist als Demokrat

Theodor W. Adorno hat 1959 im Rundfunk geäußert, daß er nicht die Wiederkehr des Faschismus als Schlägerbande fürchte, die nach SA-Manier das Volk aufmische, sondern er fürchte die Wiederkehr des Faschismus als Demokratie. (7) Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Faschismus und Totalitarismus mit Euthanasie, Eugenik, Vertreibung als Pazifizierungsmaßnahme oder Angriffskrieg gleichgesetzt. Dies waren zumindest die ausgewiesenen Hauptkriterien, die die Ankläger bei den Nürnberger Prozessen von November 1945 bis April 1949 anführten. Heute begegnet man eben jenen Merkmalen für faschistische Systeme im politischen Leben verschiedener westlicher Demokratien.

Amerika ist zweifellos eine Demokratie und führt ohne jede Bedenken Angriffskriege. Die Niederlande sind sicherlich eine Demokratie und lassen die Euthanasie in einem Umfang zu, wie es historisch bisher noch nie der Fall gewesen ist. Die Engländer sind gewiß Demokraten und fördern dennoch den Eingriff in die menschliche Keimbahn, betreiben also Eugenik. Die Tschechen sind demokratische Europäer und ihre Benesch-Dekrete sind Teil europäischen Rechts, das heißt, man könnte jederzeit Menschen aus ihren Lebensräumen vertreiben und diesen Akt – gedeckt durch in Europa geltendes Recht – als Wahrung der Friedenspflicht ausweisen. Was bisher als stalinistisch oder hitleristisch, totalitär und faschistisch galt, feiert in verschiedenen Demokratien fröhliche Auferstehung. Wenn derlei Unrecht in einer Diktatur geschähe, könnten die Menschen das Geschehen für inakzeptabel halten, dagegen aufbegehren und sich zur Wehr setzen. Indem sie sich nicht den politisch verordneten Wahnsinn aufdrängen ließen, würden die Menschen als Bürger ihre Würde wahren können. In einer Demokratie hingegen kann man seine Würde nicht wahren, da man ja gezwungen ist, aus demokratisch legitimierten Verfahren hervorgegangene Sachverhalte zu akzeptieren. (8)

Also, wo stehen wir heute? Hat Hitler wirklich verloren? Wurden wir wirklich von Goebbels, Göring und Konsorten befreit? Oder ist es nicht vielmehr so, daß die Nazis täglich in ihren Auffassungen bestätigt werden, am Ende doch zu siegen – nicht nur medial in der Guido-Knopp-Geschichtswochenschau? (9)

Göring meinte in Nürnberg kaltschnäuzig, in fünfzig Jahren werde man den Nationalsozialisten ein Denkmal setzen. Wie konnte er so sicher sein? Als Mann, der an den Gipfel der Macht, wie überall üblich, nur durch die Bereitschaft gelangt war, „unerbittlich“ zu sein, wußte er, daß es nicht um die objektiven Taten ging, sondern um deren Bewertung. Das Schema hatte sich ihm als Schulmeistermaxime unvergeßlich eingebrannt: „Wenn zwei das Gleiche tun, ist es nicht dasselbe.“ Das war und ist eine Ungeheuerlichkeit, die sich aber als sehr nützlich erwies, um Tatvorwürfe ins Leere laufen zu lassen. Man tötet ja nicht nur im Namen der Liebe und mordet, um die Ehre zu retten. So weit man weiß, gilt es im EU-Herzen Frankreich immer noch als strafmindernd für einen Mörder, wenn er den Liebhaber seiner Frau in flagranti umlegt.

Nie ist eine größere Pervertierung von ethischen Prinzipien auch noch gerichtsnotorisch geworden wie die Behauptung, daß Zwecke die Mittel rechtfertigen. Wer Menschenversuche sogar im öffentlichen Raum, nicht nur hinter Psychiatriemauern und Lagerzäunen, von Staats wegen betreibt, soll angeblich gerechtfertigt sein, wenn er damit jene Feinde abzuwehren behauptet, die solche Versuche aus rassischen, kurz ideologischen Gründen durchführen? Das geht natürlich auf die so einleuchtende, weil uralte Praxis zurück, Angriffskriege für unmoralisch, Verteidigungskriege aber geradezu für eine Ehrenpflicht zu halten, obwohl doch immer wieder bewiesen wurde, daß Aggressoren sich mit Vorliebe als die Opfer fremder Aggression ausgeben. Göring in Nürnberg wußte, daß auch in Zukunft die Reklamierung höchster Zwecke über jede Kritik an der Wahl der Mittel siegen würde.

Wer es nicht glaubt, sollte mal eine Rußlandreise auf sich nehmen, bei der ihm täglich, ja stündlich nicht von den Profiteuren, sondern den unzweideutigen Opfern des Untergangs der Sowjetunion bekundet wird, auf wie großartige Weise Stalin das Heil der Menschheit gefördert habe; der GULAG beweise nur, welche unmenschlichen Anstrengungen das gekostet habe, für die man noch heute dankbar sein müsse, weil es schlechterdings nicht akzeptabel ist anzunehmen, daß die Abermillionen Bürger der UdSSR für nichts und wieder nichts gestorben sind. Himmler argumentierte in seiner Posener Rede vom Herbst 1943 von der Seite der Täter aus: Die Größe ihrer Tat (Vernichtung des Judentums) sei nur den SS-Männern selbst bewußt und beglaubige sie als Erlöser der Welt gerade deshalb, weil allen anderen Menschen die furchterregende Wahrheit nicht zuzumuten sei.

In den westlichen Demokratien hält inzwischen die Mehrheit der Bevölkerung, trotz aller politischen Korrektheitsforderungen, Meinungsumfragen zufolge die Ordnung der Dinge nicht mehr für grundgesetzkonform. Es herrsche weder Gerechtigkeit noch Gleichheit noch Freiheit, wo Manager das Vielhundertfache der Durchschnittseinkommen für sich reklamieren, obwohl sie an der produktiven Leistung von Unternehmenskulturen weiß Gott keinen entscheidenden Anteil haben. Mit der Freiheit von Hartz-IV-Empfängern und anderer Überlebenskünstler in Millionenstärke ist es wohl nicht weit her. Und von der Gleichheit etwa vor Gericht, vor dem Finanzamt, vor den Verteilern akademischer Weihen kann keine Rede mehr sein, wenn es nur eine Frage der Zahl der Anwälte oder der Bereitschaft, Bußgelder zu zahlen oder der sozialen Herkunft ist, ob man sich den Sanktionen entziehen kann oder nicht. Wer Milliarden mutwillig und in krimineller Absicht verspielt, wird mit den Geldern der kleinen Steuerzahler schadlos gehalten, weil es angeblich unzumutbar ist, so große Täter bankrott gehen zu lassen – mit dem aberwitzigen Argument, daß die Großtäter mit ohnehin gesicherten Millionenabfindungen Golf spielen gingen und die Konsequenzen doch wieder nur der Durchschnittsmitarbeiter und Steuerbürger zu spüren bekäme.

Aber auch im kleinsten Alltäglichen erweist sich die Wiederkehr des Faschismus als Demokratiespiel.

Die wackeren Mehrheitsdemokraten haben im unbändigen Bewußtsein ihres Anspruchs auf Autonomie inzwischen die Öffentlichkeit als Raum der res publica vollständig vernichtet. Sie zwingen jedermann ohne jede Rücksicht, ihr privatbeliebiges Verhalten zu akzeptieren, bis hin zu selbstbewußter Jubeljugend, im Leibchen schwitzend in Hotelfrühstücksräumen, im Badekostüm auf dem Arbeitsamt oder in der Uni zu erscheinen und wieder und wieder Toleranz einzufordern gegenüber der Mißachtung von Konventionen und Regeln, die gerade verhindern sollen, daß sich private Willkür beherrschend durchsetzen kann. Genehmigungsbehörden machen fröhlich mit, wenn es im Namen der Wirtschaftsförderung darum geht, öffentlichen Raum zur privatkapitalistischen Nutzung freizugeben.

Von der öffentlichkeitzerstörenden Macht der quotenabhängigen Medien sind inzwischen selbst einige ihrer Vertreter überzeugt. Auf Vorhalte, warum sie diese Zerstörung von demokratischer Verfaßtheit und Öffentlichkeit mitmachten, antworten sie mit gespielter Naivität, Politik und Gesellschaft seien selber schuld, weil sie Wirtschaft und Medien keine verbindlichen Richtlinien setzten.

Anmerkungen

(1) „Wenn unsere abstrakten Bilder in einer Kirche hingen: man brauchte sie am Karfreitag nicht zu verhängen. Die Verlassenheit selber ist Bild geworden. Kein Gott, keine Menschen mehr sind zu sehen. Und wir können noch lachen, statt vor Bestürzung in den Boden zu versinken? Was bedeutet das alles? Vielleicht nur das eine, daß die Welt im Zeichen der Generalpause steht und am Nullpunkt angelangt ist. Daß ein universaler Karfreitag angebrochen ist, der außerhalb der Kirche in diesem besonderen Falle stärker empfunden wird als in ihr selbst; daß der Kirchenkalender durchbrochen und Gott auch zu Ostern am Kreuze gestorben bleibt. Das bekannte Philosophenwort ‚Gott ist tot’ beginnt ringsum Gestalt anzunehmen. Wo aber Gott tot ist, dort wird der Dämon allmächtig sein. Es wäre denkbar, daß es, so wie ein Kirchenjahr, auch ein Kirchenjahrhundert gibt und daß auf das unsere der Karfreitag und genauer die Todesstunde am Kreuze fällt.“ In: Ball, Hugo: Flucht aus der Zeit. Luzern 1956, S. 162.

(2) „Hitler war ein vollendeter Schauspieler, doch wie konnte er in sich selbst eine so unerschütterliche Siegesgewissheit wecken, daß er damit auch andere, nicht zuletzt die Generäle, zu überzeugen vermochte? Ein Teil der Antwort liegt zweifellos in seinem tief verwurzelten Glauben an die Macht des Willens. Dies war die Stunde der Wahrheit, und wieder und wieder betonte er, daß zuletzt derjenige die Oberhand behalten werde, dessen Willenskraft die stärkere, dessen Ausdauer die größere sei. Seine Hauptsorge in den ihm verbleibenden eineinhalb Lebensjahren war deshalb der Schutz seiner Willensstärke vor allen Einflüssen, die geeignet gewesen wären, sie zu beeinträchtigen. Das zeigte sich auch in seiner wütenden Weigerung, die ihm vorgelegten Zahlen über die Stärke der sowjetischen Truppen und den Umfang der sowjetischen Rüstungsproduktion zur Kenntnis zu nehmen. Stalin sei, so beharrte Hitler, am Ende seiner Reserven; seine Armeen seien zu erschöpft, um weiter in der Offensive bleiben zu können; und es sei Unsinn, unmöglich – so belehrte er Manstein –, daß die Russen 57 neue Divisionen aufgestellt hätten: Es sei nichts als Defätismus, solchen Zahlen Glauben zu schenken. Das war der Tenor seiner Kritik an den Stabsoffizieren. Immer wieder warf er ihnen vor, sie belögen ihn und stellten den Gegner absichtlich stärker dar, als er sei, um ihren Mangel an Mut und Siegeswillen zu verbergen.“ In: Bullock, Alan: Hitler und Stalin. Parallele Leben. Berlin, 1991, S. 1059 f.; vgl. Brock, Bazon: Deutschsein. Die normative Kraft des Kontrafaktischen. In: ders., 2002, S. 820 ff.

(3) Schivelbusch, Wolfgang: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865. Frankreich 1871. Deutschland 1918. Berlin 2001.

(4) „Sie gaben sich mehr die Miene distanzierter Beobachter, und als ‚enorm wischtisch‘ faßten sie die allgemeine und schon deutlich hervortretende Bereitschaft ins Auge, sogenannte kulturelle Errungenschaften kurzerhand fallen zu lassen, um einer als notwendig und zeitgegeben empfundenen Vereinfachung willen, die man, wenn man wollte, als intentionelle Re-Barbarisierung bezeichnen konnte.“ In: Mann, Thomas 1999, S. 491.

(5) Zur Selbstbezüglichkeitsmethode in der Moderne, Richard Wagners Konzept „Erlösung dem Erlöser“, Lenins „Erziehung der Erzieher“ und Heideggers „Führung des Führers“, siehe Kapitel „Selbstfesselungskünstler gegen Selbstverwirklichungsbohème“.

(6) „So fügt sich eines zum anderen: Der wirkliche Wert, die Aufgabe und der Lebenssinn des Menschen, wie alle sein Kulturleistungen, bestehen darin, daß er sich im Dienste herrscherlicher und geheiligter Institutionen opfert, sich ‚konsumieren’ läßt. Jede Ablösung von den Institutionen setzt die libertären, egalitären und humanitären Tendenzen in Gang, die unaufhaltsam der Entartung und dem Verfall, dem Untergang der Kultur zutreiben. [...] Und Rettung bietet nur noch eine die Zerstörung zerstörende Gewalt. Punkt um Punkt zeigt sich damit Gehlens Theorie als Bestätigung jener Entscheidungs- und Entschlossenheits-Ideologie der zwanziger Jahre, die wir in Beispielen dargestellt haben – auch oder gerade in der Form, die sie in Hitlers ‚Mein Kampf‘ annimmt. Es liegt wenig an Etikettierungen, aber wenn man in diesem Zusammenhang vom Faschismus spricht, dann hat Arnold Gehlen in seinem Werk eine, nein: die faschistische Theorie entworfen und vollendet, auf dem allerhöchsten Reflexionsniveau, das sie überhaupt zu erreichen vermag. Ihr Verdienst ist es, daß sie aus der conditio humana, aus den Bedingungen des Menschseins, Möglichkeiten des Unmenschlichen, die Antriebe zur Vernichtung der europäischen Vernunft erklärbar macht. Der Wahn aber, dem sie zugleich verfällt, hat mit einer historischen Verblendung zu tun: Die Chance zu freiheitlichen Institutionen, wie sie in westlichen Demokratien entstanden, bleibt völlig außer Betracht. Damit enthüllt sich diese Theorie als eine Sonderform der Ideologie, die das deutsche Drama gleichsam nachinszeniert.“ Krockow, Christian Graf von 1990, S. 340.

(7) Thomas Mann spricht in einem Brief an den von ihm später als NS-Spitzel verdächtigten Journalisten Kiefer am 26. Oktober 1933 einen Gedanken an, den manch ein Zeitgenosse heute auch akzeptieren könnte, wenn man wirklich die politische Situation bedenkt: „Das Heilmittel, das dem ganzen Spuk von heute ein katastrophales Ende bereiten und eine neue Welt aus sich erstehen lassen würde, kann man aus individueller Menschenschwachheit nicht wünschen – und doch wünscht man es heimlich, trotz der Gewißheit, darin mit unterzugehen.“ Gemeint ist offensichtlich der zu entfachende Bürgerkrieg zwischen Linken und Rechten in Deutschland. Ähnlich argumentiert Thomas Mann 1949 ff. gegenüber den Nationalchauvinisten der USA, geführt von McCarthy.

(8) Daß die Gegenwehr in der Demokratie ziemlich sinnlos ist, erfuhr ich im Januar 1987 nach einer mehrstündigen Besucherschule zur Eröffnung der Anselm-Kiefer-Ausstellung in Chicago. Brock endete mit der Schlußbemerkung: „Es ist eine Tragödie, daß sich die israelische Armee bei der Reaktion auf die zweite Intifada zu Maßnahmen gezwungen sieht, unter denen gerade Juden in extremer Weise zu leiden hatten.“ Daraufhin: Pöbelhafte Reaktionen von angeblichen jüdischen Kunsthändlern im Zuhörerraum, die es einen Skandal fanden, am Vorgehen der israelischen Armee (Teeren und Abbrennen von Wohnhäusern) auch nur die leiseste Kritik zu üben. Seither war mir klar, daß diesen Personen weder an Humanität noch historischer Gerechtigkeit gelegen ist. Sie treiben ein banales Machtspiel mit den angeblich heiligsten Gütern nach bekannten historischen Mustern. Ich hatte mich seit 1959 und 1965 stets gegen derartige Einsichten von Seiten Adornos oder Leibowitz‘ mit aller Kraft gewehrt; ihnen dann doch Weltkenntnis zugestehen zu müssen, bedaure ich bis heute.

(9) „Später fragte Augstein mich nach dem Fortgang der Hitlerbiographie, und als ich womöglich etwas allzu deutlich durchblicken ließ, daß mir nach nunmehr vier Jahren die Arbeit daran zusehends schwerfalle, unterbrach er mich ungeduldig: ‚Hören Sie bloß auf! Ich kann das Gejammer nicht hören! Nur der Klischee-Autor jammert. Der wirkliche Autor dagegen tut das Nötige.‘ Dann fügte er hinzu: ‚Und bitte! Nur kein Gewinsel über die Last der deutschen Geschichte! Darin wetteifern doch schon die vielen Esel ringsum! Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten diese verdammte Geschichte nicht! Nicht Luther und nicht Friedrich, Bismarck nicht und nicht die ganzen Bagage bis hin zu Hitler!‘ ‚Was fingen wir an?‘ fuhr er fort, ‚So, wie es war, hat jeder von uns Stoff für drei Leben und sogar noch ein paar mehr. Nicht auszudenken, daß wir Franzosen wären mit diesem einen Napoleon! Und davor und danach nur eine Handvoll glänzender und meist erbärmlicher Chargen wie Herzog von Orléans, den dritten Napoleon oder diesen Vorstadtchauvinisten Poincaré! Auch die Italiener sind nicht besser dran, die sich immer gleich um fünfhundert Jahre zurückbesinnen müssen, um auf einen attraktiven Bösewicht zu stoßen! Oder sogar, am schlimmsten vielleicht, nein! Bestimmt am schlimmsten: Holländer zu sein!‘ Er jedenfalls habe stets einen Vorzug darin gesehen, als Deutscher gerade dieser Generation anzugehören: ‚Zu jung, um sich von den Nazis korrumpieren zu lassen, aber alt genug, um die interessante Sache dauernd mit sich herumzuschleppen.‘ Nach ein paar Wortwechseln setzte Augstein noch hinzu: ‚Die Generation nach uns wird sich mit der Inhaltsleere abmühen müssen und am Ende an der Langeweile zugrunde gehen. Alles, was ich von ihr weiß und beobachte, nötigt mich zum Bedauern. Anders als Sie und ich hat sie kein Lebensthema! Sie wird sich eines erfinden müssen! Und wer weiß, was dabei herauskommt?‘ Natürlich war bei dem und allem, was Augstein sonst noch dazu sagte, viel von dem ‚positiven Zynismus‘ im Spiel, dessen er sich gern rühmte. Was aber seine Vorhersage angeht, hatte er, wie wir als Zeitgenossen der Spaßkultur und des Event-Getues wissen, mehr recht, als irgendwer damals ahnte.“ In: Fest, Joachim: Begegnungen. Über nahe und ferne Freunde. Reinbek bei Hamburg 2004, S. 358 f.

Lustmarsch durchs Theoriegelände, Bild: Seite 122-123: Kontrafakte – Karfreitagsphilosophie – die Gottsucherbanden – Der Faschist als Demokrat. Gestaltung: Gertrud Nolte..
Lustmarsch durchs Theoriegelände, Bild: Seite 122-123: Kontrafakte – Karfreitagsphilosophie – die Gottsucherbanden – Der Faschist als Demokrat. Gestaltung: Gertrud Nolte..
Karfreitagszauber I, Bild: Lustmarsch, I.4, S. 123 © QART, Stefanie Hierholzer und Ulrich Klaus.
Karfreitagszauber I, Bild: Lustmarsch, I.4, S. 123 © QART, Stefanie Hierholzer und Ulrich Klaus.
„Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, / Hat auch Religion; / Wer jene beiden nicht besitzt, / Der habe Religion.“ – Goethe, Bild: Lustmarsch, I.4, S. 124 © Norbert Miguletz.
„Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, / Hat auch Religion; / Wer jene beiden nicht besitzt, / Der habe Religion.“ – Goethe, Bild: Lustmarsch, I.4, S. 124 © Norbert Miguletz.
Karfreitagszauber II, Bild: Lustmarsch, I.4, S. 124 © QART, Stefanie Hierholzer und Ulrich Klaus.
Karfreitagszauber II, Bild: Lustmarsch, I.4, S. 124 © QART, Stefanie Hierholzer und Ulrich Klaus.
Nietzsche-Peitsche: Es muß ja dauernd Schwierigkeiten geben, damit sich die Liebe beweisen kann., Bild: Lustmarsch, I.4, S. 124 © QART, Stefanie Hierholzer und Ulrich Klaus.
Nietzsche-Peitsche: Es muß ja dauernd Schwierigkeiten geben, damit sich die Liebe beweisen kann., Bild: Lustmarsch, I.4, S. 124 © QART, Stefanie Hierholzer und Ulrich Klaus.
Amboaltar vor Dante-Grab, Wahnzimmer und Museumsmonstranz, Bild: Lustmarsch, I.4, S. 126; Ausstellung "Lustmarsch durchs Theoriegelände", Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2006.
Amboaltar vor Dante-Grab, Wahnzimmer und Museumsmonstranz, Bild: Lustmarsch, I.4, S. 126; Ausstellung "Lustmarsch durchs Theoriegelände", Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2006.
Karfreitagszauber III, Bild: Lustmarsch, I.4, S. 130 © QART, Stefanie Hierholzer und Ulrich Klaus.
Karfreitagszauber III, Bild: Lustmarsch, I.4, S. 130 © QART, Stefanie Hierholzer und Ulrich Klaus.

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